Thomas Renggli
November 2020
Der Kristall-Mann
Er fand den grössten Kristall des Alpenraums und brachte mit der Macht der Mineralien einen toten Baum zum Blühen. Die fantastische Geschichte von Werner Schmidt.
Eigentlich verspürt Werner Schmidt keine Lust auf Medientermine: «Ich konzentriere mich lieber auf Felsen und Gesteinsstrukturen, als mit Journalisten zu sprechen.» Selbst dem Schweizer Fernsehen entzieht er sich mit Konsequenz: «Das Scheinwerferlicht ist nicht mein Ort.» Schmidts Ort befindet sich viel mehr dort, wo das Gros der Menschheit nie hingehen würde (und auch gar nie hinkäme). Oft hängt der 57-jährige Oberwalliser aus Reckingen nämlich tagelang in unwirtlichen Nordwänden, schläft im Biwak und ist für mehrere Wochen von zu Hause weg – und das mutterseelenallein.
Werner Schmidt zwischen Klippen, Felsen und Klüften: «traumhafte Leidenschaft» als Strahler
«Die Kunst ist kein Spiegel, sondern ein Kristall. Sie schafft ihre eigenen Formen.» Das Zitat des englischen Poeten Oscar Wilde (1854–1900) könnte auch von Schmidt stammen. Der Bergsteiger hat sein Leben den funkelnden Steinen verschrieben; dieser Art Quarz, die durch einen jahrhundertelangen physikalischen Prozess in Klüften und Spalten des Hochgebirges entsteht. Schmidt ist einer der wenigen Strahler, der ausschliesslich vom Verkauf von selber gefundenen Steinen leben kann. In Mörel VS betreibt er das Schweizer Strahler Museum. Mit seiner Lebenspartnerin Dolores Summermatter (57) zeigt er dort 700 Exponate von A wie Adular bis Z wie Zeolithmineralien – und liefert den Besuchern einen Einblick in seinen spektakulären Beruf: «Im Sommer bin ich fast die ganze Zeit unterwegs. Ich versuche meine Expeditionen minutiös zu planen, aber in der Natur zählt oft nur die Improvisation.»
Die Berufung zum Beruf gemacht
Den ersten Kristall fand er im Alter von elf Jahren. Doch dann machte er eine Lehre als Schreiner, später arbeitete er in einem Möbelgeschäft. Vor zehn Jahren entschied er sich, seine Berufung zum Beruf zu machen – dies sei aber nur dank seiner Partnerin möglich gewesen: «Als Strahler braucht man einen Menschen, der bedingungslos zu einem steht und zu Hause aufpasst, wenn man oft wochenlang unterwegs ist.»
Schmidt bezeichnet seine Leidenschaft als traumhaft. Sie sei aber auch mit knochenharter Arbeit und langen Tagen verbunden. Auf die Gefahr der sozialen Verarmung angesprochen, antwortet er trocken: «Tatsächlich fragen mich immer wieder Leute, ob ich nicht komisch werde, wenn ich so lange allein in den Bergen unterwegs bin. Ich sage dann jeweils: ‹Im Gegenteil. Wenn ich zurückkomme, habe ich jeweils das Gefühl, die Welt sei komisch.›» Die Natur ändere sich nie, aber die Menschen im Tal nähmen gelegentlich merkwürdige Gewohnheiten an.
Vor 13 Jahren machte Schmidt seinen grössten Fund. In einer engen Kluft in rund 3000 Metern Höhe entdeckte er einen Stein, der seine Vorstellungskraft sprengte: «Er war anfänglich kaum zu sehen und lag in rund 20 Metern Tiefe.» Handbreite um Handbreite habe er sich vorgekämpft, um mit der Kamera im Blindverfahren erste Fotos zu machen. Was er sah, konnte er kaum fassen: «Es ist wahrscheinlicher, einen Sechser im Lotto zu landen, als einen solchen Stein zu finden.»
Viel Knochenarbeit nötig
Doch damit war erst der Anfang gemacht. Denn wie bringt man einen 800 Kilogramm schweren und 111 Zentimeter langen Rauchkristall ins Tal? Schmidt sagt dazu: «Mit Seilwinden, Stahlkabeln und Knochenarbeit.» Bei der Bergung seien ihm seine Fähigkeiten als Schreiner entgegengekommen: «Ich baute eine Plattform am senkrechten Fels, vergrösserte den Eingang zur Kluft und verpackte den Stein noch im Innern des Felsens in eine Kiste. Und darin gelang es mir, ihn herauszuholen.» Der Transport ins Tal übernahm ein Helikopter. Blickt Schmidt heute auf seinen grössten Fund, sagt er stolz: «Als der Stein im Museum war, konnte ich es zuerst kaum fassen.» So ähnlich müsse sich ein Olympiasieger auf dem Podest fühlen – oder ein Weltmeister, wenn die Nationalhymne gespielt werde.
800 Kilogramm schwerer Kristall: Werner Schmidt im Schweizer Strahlermuseum in Mörel mit seinem grössten Fund
Die Frage, wo genau er den Stein gefunden habe, beantwortet er mit schalkhafter Sachlichkeit: «Im Oberwallis.» Grossen Wert legt er aber darauf, dass er bei seiner Arbeit nur mit Körperkraft und seinem bergsteigerischen Geschick vorgehe: «Sprengen würde ich nie.» Weil das Klettern einen grossen Teil seiner Arbeit ausmache, brauche er pro Jahr drei Paar Bergsteigerschuhe. Sein Rucksack bietet Platz für 20 bis 40 Kilogramm Stein. Darin schleppe er pro Jahr Hunderte Kilo Kristall nach Hause. Weniger gern spricht er darüber, wie der ideale Fels für Kristallfunde aussieht. Man müsse auf Felsveränderungen, Wasseraustritte oder Quarzbänder achten. Der Rest bleibt Berufsgeheimnis.
Der Lohn ist so oder so gross – nicht nur materiell. Bergkristallen wird nämlich auch eine heilende und entspannende Wirkung nachgesagt. Sie sollen helfen, psychische Blockaden zu lösen und neue Energie vermitteln. Schmidt sagt dazu: «Ich bin kein Heiler, ich bin Strahler.» Und dann findet er doch ein konkretes Beispiel, das für die magischen Fähigkeiten der Steine spricht: «Ich stellte einst eine abgesägte Weihnachtstanne in Kristallwasser. Eigentlich wollte ich sie im Januar entsorgen. Doch plötzlich begann sie wieder zu blühen.»
Werner Schmidt erzählt dies, ohne mit der Wimper zu zucken. Und wer ihm zuhört, ist sich sicher, dass jedes Wort stimmt. Denn der Strahler Werner Schmidt ist
definitiv kein Blender.
Artikel aus der Coopzeitung Nr. 52 vom 21. Dezember 2020
Thomas Renggli
November 2020
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