Sie lebt und kleidet sich wie anno dazumal. Unterwegs mit Roberta Brigger, Leiterin Alpmuseum Riederalp.
Wie Perlen hängen Regentropfen der vergangenen Nacht an den Nadelspitzen gross gewachsener Lärchen. Wolkenschwaden ziehen zügig zwischen knorrigen, jahrhundertealten Arven hindurch, setzen Alpenrosen, am Boden liegende Baumstämme oder Felsbrocken immer wieder neu in Szene, und der leichte Wind lässt an Ästen herunterhängende Flechten tanzen.
Mystisch ist es an diesem frühen Julimorgen im Aletschwald, wie aus einer anderen Welt. Dazu passt auch die in ein langes Gewand gehüllte Gestalt mit Rucksack, Stock und Hut, die mit stoischem Schritt unterwegs ist auf dem Wanderweg von der Riederfurka Richtung Aussichtspunkt Bischofssitz entlang des Grossen Aletschgletschers. Es ist Roberta Brigger.
Die Walliserin aus Ried-Mörel macht ihr «Tourli». Wie jeden Tag, meist irgendwo oberhalb der Riederalp, Bettmeralp oder Fiescheralp im Gebiet der Aletsch Arena, bei jedem Wetter, am liebsten zu Tageszeiten, wenn keine anderen Berggänger anzutreffen sind, und immer in eine Tracht gekleidet. An diesem kühlen Morgen auf über 2000 Metern über Meer trägt sie ein braunes Drilchgewand, das ihr eine Schneiderin aus dem Lötschental aus einem siebzig Jahre alten Wollstoff nach dem Muster einer Werktagstracht auf den Leib geschneidert hat. Acht Kilo schwer sei diese, verrät Roberta Brigger, und jetzt, da der Saum nass ist, noch schwerer. «Das stört mich nicht», sagt sie. «In meiner Tracht fühle ich mich leicht und frei.»
Es ist ihre sanfte, schmeichelnde Stimme, die einen sofort für sie einnimmt, und
auch die Art, wie sie leise und bedächtig spricht. Immer wieder bleibt sie stehen, bestaunt am Wegesrand blühende Alpenrosen, zeigt auf verformte Wurzeln, macht auf eine im saftig grünen Unterholz vorbeihuschende Hirschkuh aufmerksam. «Besonders schön ist es hier, wenn es nicht perfekt schön ist», sagt sie und weist mit ihrem Stock hangabwärts, wo sich gerade die Wolken lichten und für einen kurzen Moment den Blick auf das ewige Eis freigeben. Als Waldbaden wird achtsames Wandern heute angepriesen, für Roberta Brigger ist es schlicht und einfach Kraft tanken.
66 Jahre alt und aktiv pensioniert sei sie, verrät Roberta Brigger und fügt an: «Ich muss nicht mehr müssen. Ich darf jetzt dürfen.» Doch die Frau mit dem gesund gebräunten, fast faltenfreien Teint, den wachen hellblauen Augen und weissen Haaren wirkt alterslos. Als zweitältestes Kind einer siebenköpfigen Bauernfamilie in Staldenried-Gspon im Vispertal aufgewachsen, erlebte sie eine behütete Kindheit.
«Wir waren Selbstversorger, hatten Geissen, Schweine, Eringer. Wenn der Vater mit den Kühen auf der Alp war, gabs zu Hause im Dorf Geissenmilch, meine Mama machte Käse. Gemüse und Kartoffeln kamen aus dem Garten, Brot wurde selbst gebacken. Einen Fernseher hatten wir nicht, dafür wurde abends viel gesungen oder gejasst. Und statt im Schwimmbad verbrachten wir die Sommer barfuss spielend auf den Matten», erzählt Roberta Brigger auf einem Stein sitzend am Bischofssitz.
Diese ihrer Erzählung nach so heile Welt, diese Idylle, hat sie sich vor zwanzig Jahren wieder in ihr Leben geholt. Nach schwierigen Lebensjahren mit früher Heirat, Familiengründung, Jahren in der Deutschschweiz, Scheidung und gescheiterten Beziehungen zog sie, als die beiden Töchter aus dem Haus waren, zurück ins Wallis und landete in Ried-Mörel. «Ich sehnte mich nach meinen Wurzeln, nach Natur und Brauchtum.» All dies fand sie an ihrem neuen Wohnort – und dazu auch eine Passion.
Mit dem Beitritt in den örtlichen Trachtenverein erwachte bei Roberta Brigger die Leidenschaft für traditionelle Kleidung. «Damals liess ich mir meine erste Tracht anfertigen.» Sie habe schon immer ein Flair für schöne Kleider gehabt, den klassischen, romantischen Stil bevorzugt und nie Jeans getragen, sagt sie. «Aber das Gefühl, in eine Tracht gekleidet zu sein, war einfach überwältigend. Ich fühlte mich stolz, stark und intensiv mit der Heimat verbunden.»
Heute besteht ihre Garderobe aus fünf Trachten: einer Walliser Sonntagstracht, einem Drilchgewand, das in der kälteren Jahreszeit werktags zum Arbeiten getragen wurde, einer Sommertracht sowie zwei Sommer-Werktagstrachten. Zudem besitzt Roberta Brigger vier Hüte. Und zu jeder Tracht mindestens zwei Schürzen, die sie alle selbst bestickt hat, ebenso wie mehrere Foulards – «Vorscher» und «Fulaar» in ihrem Dialekt.
Für Ski- und Bergtouren – Roberta Brigger war schon auf fünfzehn Viertausendern, Matterhorn und Dom inklusive –, hat sie sich Hosen aus Drilch schneidern lassen. Einige tausend Franken haben all diese Massanfertigungen gekostet, die sich nach über hundertjährigen Vorlagen richten. Das war Roberta Brigger wichtig. Denn mit ihrer neuen Kleidung verabschiedete sie sich auch aus dem Leben der Gegenwart in die Vergangenheit.
Aus vielen Gesprächen mit alten Menschen, durch Erzählungen von früher und auch aufgrund meiner Kindheit habe ich beschlossen, mein Leben nach den Werten aus jener Zeit zu richten. Die Menschen damals schienen mir viel zufriedener als heute, leisteten körperliche Arbeit und gönnten sich nach getanem Tagwerk auch Ruhe und Musse.» Zwar besitzt Roberta Brigger ein Handy, benutzt es aber selten. Sie hat keinen Fernseher. Und auch Zeitungen liest sie nicht. «Da steht doch nur, was schon vorbei ist. Und sollte etwas Wichtiges passiert sein, erfahre ich es ohnehin.»
Mit ihrem Partner lebt Roberta Brigger in einem Chalet. Doch ihr eigentliches Zuhause ist seit elf Jahren eine kleine Alphütte oberhalb des Golfplatzes Riederalp. «Nagulschbalmu» heisst sie auf Walliserdeutsch, was übersetzt «nicht nigelnagelneu» bedeutet. Darin ist das Alpmuseum untergebracht, und Roberta Brigger ist seine leidenschaftliche Leiterin. «Ich liebe es, an diesem wunderschönen Platz Walliser Brauchtum vermitteln zu dürfen», sagt sie. In den Sommermonaten lässt sie sich jeweils mittwochmorgens beim Käsen zuschauen, am Donnerstagmorgen zeigt sie den Besucherinnen und Besuchern, wie Butter hergestellt wird. «Im Alpmuseum habe ich meinen Seelenplatz gefunden», sagt sie.
Auf dem Rückweg der Wanderung zur Riederfurka und dann weiter zur ehrwürdigen Villa Cassel muss das «Fulaar» in Briggers Rucksack verschwinden, die Sonne hat die Wolken vertrieben, es wird warm. Im viktorianischen Gebäude, in dem schon Sir Winston Churchill in der Sommerfrische war und wo heute das Pro-Natura-Zentrum untergebracht ist, will Roberta Brigger im Teesalon ihre berühmte Aprikosen-Quark-Torte kredenzen.
Doch erst muss die Tracht gewechselt werden. Im geschichtsträchtigen Haus trägt sie eine Sommerwerktagstracht. In den vergangenen sechzehn Jahren hat Roberta Brigger hier ihre Backkünste ausgelebt und die Gäste mit täglich frischen, weitherum berühmten Kuchenvariationen überrascht. Seit letztem Sommer backt sie nur noch sporadisch, um dafür öfters mit ihrem Partner «z Berg» zu gehen. Das Weisshorn, ihr Viertausender Nummer sechzehn, wartet, dafür will sie sich gut vorbereiten. Wie sagt Roberta Brigger doch: «Ich muss nicht mehr müssen. Ich darf jetzt dürfen.»