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Wer hat Angst vor den armen Seelen

Geschrieben von C.C. Schmid | Feb 26, 2025 12:08:51 PM

Fegefeuer im Wallis ist eiskalt: In den Tiefen des Aletschgletschers verbüssen die armen Seelen ihre Sünden – und bisweilen ziehen sie nachts im Mondschein über den Grat. Wem das nicht zu gruselig ist, der folgt Bergführer Martin Nellen auf Schneeschuhen durch die UNESCO-gekrönte Landschaft der Aletsch Arena. In seiner abgelegenen Alphütte erzählt er bei Kerzenschein die uralten Sagen.

Wenn Martin Nellen vom «Gratzug» erzählt, der Wanderung der armen Seelen aus den Walliser Sagen, wird seine Stimme ganz ruhig und manchmal sogar ein klein wenig langsamer. Vielleicht spricht da einfach mehr sein Herz als sein Kopf – immerhin sind die uralten Erzählungen Teil seiner Kindheit, und ein Stück davon offenbart er bei den Sagenwanderungen auf Schneeschuhen.

 

Bergführer, Skilehrer und Sagenerzähler

Das Geschichtenerzählen wurde Martin Nellen quasi in die Wiege gelegt. Seine Grossmutter war eine begnadete Sagenerzählerin. In Martins Heimatort, einem kleinen Bergdorf unterhalb der Riederalp, zog sie ihn und seine Geschwister mit ihren Erzählungen in den Bann.

 

Nach den üblichen Schuljahren, dem Gymnasium und einem erfolgreich abgebrochenen Studium der Germanistik, entschied sich Martin für Natur und Menschen. Er ist Bergführer, Skilehrer und erzählt die Sagen seiner Grossmutter weiter.

 

Eine Reise zu den Gletschern

Die alten Mythen rund um den «Gratzug» sind nicht nur faszinierende Erlebnisse aus vergangenen Zeiten, sondern auch Teil einer tief verwurzelten Beziehung zwischen Mensch und Natur. Dies thematisiert auch die Dokumentation «Die Gletscherprozession», die auf Kanal9 erschienen ist. Wer diese mythischen Geschichten live erleben möchte, kann mit Martin Nellen auf den Schneeschuh Gratzug bei Vollmond gehen – aber nur wenige haben das Privileg, ihm dabei zuzuhören.

 

Immer nur ein knappes Dutzend Gäste kann an seinen Sagenwanderungen teilnehmen, denn dem Bergführer ist es wichtig, dass es ein kleiner, intimer Kreis bleibt, der sich in der Dämmerung von der Riederalp unweit des Aletschgletschers aufmacht. Ein ganz praktischer Grund für die Gruppengrösse kommt hinzu: In der abgelegenen Alphütte ohne Strom und fliessendes Wasser, zu der er die Leute führt, ist einfach nicht mehr Platz.

 

In Schneeschuhen zum Sonnenuntergang

«Wir fahren mit der letzten Bahn zur Moosfluh hinauf», erklärt Martin, «dann geht es fast ohne Steigung hinüber zur Hütte.» Die geführte Schneeschuhtour ist für durchschnittliche Wanderer gut zu machen – auch Zehnjährige hat der Bergführer schon mitgenommen.

 

Bevor es losgeht, bekommen die Gäste ihre Schneeschuhe, mit denen man selbst im Tiefschnee ohne einzusinken gehen kann. Der Unterschied zur gewohnten Fortbewegung ist der ganz leichte «Watschelgang», da die Schneeschuhe etwas breiter sind als Wanderschuhe. Ausserdem erleichtern Trekkingstöcke das Vorankommen und geben zusätzlich Stabilität.

Als sich die Gruppe in Bewegung setzt, hat sich die Sonne bereits von der Riederalp verabschiedet und steckt ihre ganze Kraft in die Beleuchtung der Wolken, die auf den Bergspitzen am Horizont sitzen: Ein goldenes Orange, das zu den Rändern hin apricotfarben ausfranst, hat sie sich ausgedacht. Und für die etwas wattigere Schicht darüber ein zartes Rosa.

 

 

Rechter Fuss, linker Fuss, Einatmen, Ausatmen

Es ist ohnehin still auf dem autofreien Hochplateau der Aletsch Arena, das sich die Riederalp mit der Bettmeralp und der Fiescheralp teilt, und der Schnee schluckt noch die letzten Geräusche. Die Skifahrer und Snowboarder sitzen jetzt beim Feierabendbier oder in der Sauna, und unsere Wanderer schwingen sich langsam in ihren eigenen Rhythmus ein: rechter Fuss, linker Fuss, Einatmen, Ausatmen.

 

Der Atem macht kleine Dampfwölkchen, die sich als Eiskristalle in den Augenbrauen niederlassen. Nach den Plaudereien, welche die Wanderer zu Beginn noch versucht haben, stapft nun jeder, ganz in sich versunken, bergab. Es ist fast eine Art Trance, in die man durch die gleichmässige Bewegung fällt, es gibt nichts zu tun ausser: rechter Fuss, linker Fuss, Einatmen, Ausatmen.

 

Kalkraben und ein schillerndes Himmelszelt

Irgendwann – der Himmel erinnert nur noch mit einem leisen hellen Streifen, der die Bergzacken als Scherenschnitt aufragen lässt, an den Tag – schreckt ein Schwarm Kalkraben die Wanderer aus ihrer Versunkenheit. «Wie bestellt», denkt Martin Nellen, denn in seinen Sagen für die nächtliche Schneeschuh-Wanderung geht es häufig um Geister, denen ja bisweilen Rabengestalt nachgesagt wird.

Inzwischen hat sich ein Nachthimmel aufgespannt in der klaren Luft, der fast unwirklich scheint: Es ist kaum Platz für das Schwarz des Himmels vor lauter Sternen. Martin bleibt stehen – und als sich die Gäste vom Anblick nicht mehr losreissen können, lockt er sie mit der Aussicht auf die warme Stube in seine nahe gelegene Alphütte mit der dicken Schneehaube auf dem Dach.

 

 

Die Sage vom schlaflosen Mann und dem Gratzug

Während er im Schein der Stirnlampe den Ofen anschürt und Glühwein aufsetzt, rücken die Wanderer um den Tisch zusammen. Als es wärmer wird in dem kleinen, gemütlichen Raum, werden Jacken ausgezogen und Handschuhe zum Trocknen aufgehängt. Der Kerzenschein flackert auf Martins Gesicht und lässt seinen Schnauzbart lustige Schatten werfen, doch seine Augen werden ernst, als er zu erzählen beginnt.

Von dem Mann, der nicht einschlafen kann, sich im Bett hin und her wälzt und schliesslich aufsteht: «Es ist schon nach Mitternacht, der Mann geht in die Küche, und da sieht er draussen, gar nicht weit entfernt» – Martin schaut hinüber zu dem beschlagenen Fenster – «den Gratzug vorbeiziehen.» Der Gratzug, wir erinnern uns, ist in den Walliser Sagen die Wanderung der armen Seelen. Sie büssen hier übrigens nicht im Fegefeuer, sondern in den Tiefen des Aletschgletschers. «Da bemerkt der Mann den Letzten», erzählt Martin. «Der kommt ihm bekannt vor, wie er geht und überhaupt. Er sieht ihn nur von hinten, doch da fällt ihm auf, dass er einen einzelnen Strumpf über der Schulter liegen hat. Er schaut hinauf zur Ofenstange» – die Gäste folgen Martins Blick zur Ofenstange – «und da sieht er den zweiten Strumpf hängen.»

 

Totenstille – und niemand will nach draussen

Mucksmäuschenstill ist es in der Hütte, nur das Feuer knistert im Ofen, winzige Explosionen bisweilen vom Harz im Holz. Der Wind fährt in den Kamin und rüttelt ein bisschen an den Fensterläden, als wolle er zeigen, dass er auch da ist.

Martin erzählt die Walliser Sagen in der heimischen Mundart, wie er sie als Kind von seinen Grosseltern hörte. Das Publikum hält den Atem an, niemand hustet, alle möchten mehr.

Als sich die Gruppe nach einer guten Stunde zum Abstieg bereitmacht und Martin die Tür öffnet, will keiner als erster raus. Die Stille lastet schwer – und der Gedanke an die einsamen Seelen draussen im Schnee lässt sie zögern.